Von wegen „typisch männlich“ – Girls‘ day in Bad Buchau (Schwäbische Zeitung)

Neun Mädchen, davon sechs vom Progymnasium, schauen beim Girls’ Day bei der Bad Buchauer Firma Kessler in eine mögliche berufliche Zukunft.

Ein Fingerring entsteht hier an der Drehmaschine unter Aufsicht von Azubi Britta Kiebler für Laurena Knoll.

Ein Fingerring entsteht hier an der Drehmaschine unter Aufsicht von Azubi Britta Kiebler für Laurena Knoll. Photo: Klaus Weiss

 
Bad Buchau (sz) Auch der Bad Buchauer Spindelhersteller Kessler hat sich an der bundesweiten Kampagne „Girls’ Day“ beteiligt. Neun Mädchen aus Bad Buchau und Riedlingen waren mit dabei und zeigten Interesse.

Die Firma Kessler gilt in der Region als ein beliebter Ausbildungsbetrieb und wohl auch deshalb sind neun Mädchen des Bad Buchauer Progymnasiums und der Riedlinger Geschwister-Scholl-Realschule beim diesjährigen „Girls’ Day“ dabei gewesen. Im Lehrsaal durften die Mädchen zunächst einmal in einem Imagefilm alles Wissenswerte über den Ausbildungsbetrieb Kessler erfahren, was anschließend dann in einer Betriebsführung „live“ vertieft wurde.

Überwiegend weibliche Azubis nahmen sich dann der Schülerinnen an und durften sie weitgehend eigenständig in die vorbereiteten Vorführungen einweisen und natürlich auch mithelfen. Sowohl der gewerbliche Ausbildungsleiter Peter Kehrle als auch die Personalreferentin Corinna Hendrich sehen in der Betreuung durch weibliche Azubis gleich zwei Vorteile: Zum einen hätten die Girls zu weiblichen Azubis mehr Vertrauen und die Gespräche seien lockerer, und zum anderen sei es auch für die Azubis gut, wenn sie selbstständig den „Girls“ Einblicke in ihre Arbeit geben dürften. Allerdings befanden sich zum „Girls’ Day“ einige der Auszubildenden in der Berufsschule: Aber mit den Jungs als Betreuern sei ja auch gut zu arbeiten, meinte eine der Schülerinnen.

Während eine Gruppe ein kleines elektronisches Roulette-Spiel zusammenbauen und dabei schrauben und löten durfte, wurde die andere Gruppe in die Funktionsweise einer Pneumatikschaltung eingewiesen, die hinterher natürlich auch funktionieren muss. Eine andere Gruppe beschäftigte sich mit Statorspulen, wobei Nutisolierungen eingelegt und Statorspulen gewickelt werden mussten.

Schülerin Sabrina Letsch zeigte sich überzeugt, dass der Motor, an dem sie gerade arbeitet, auch funktionieren wird. Sie könne sich schon jetzt gut vorstellen, einmal bei Kessler eine Ausbildung zu machen. Auch Fingerringe durften an der Drehmaschine – natürlich nur unter Aufsicht – hergestellt werden und zeigten den interessierten „Girls“ Einblicke in die Welt der Mechanik und Elektronik.

Peter Kehrle, der gewerbliche Ausbildungsleiter hält den „Girls’ Day“, den er bei Kessler zum ersten Mal mitbetreut, für eine gute Sache. Mehr als die Hälfte der Mädchen wählt, obwohl sie im Schnitt gute Schulabschlüsse und Noten aufweisen, noch immer „typisch weibliche“ und häufig technikferne Berufe oder Studienfächer und schöpft die beruflichen Möglichkeiten nicht voll aus. Nicht mangelnde Fähigkeiten und Interessen, sondern fehlende weibliche Vorbilder und unrealistische Vorstellungen von technischen Berufsbildern beeinflussen die Berufswahl von Mädchen. Der „Girls’ Day“ soll gezielt Mädchen ab der fünften Schulklasse neugierig auf technische und naturwissenschaftliche Berufe gemacht werden. Die Bewerbungen von jungen Frauen um Ausbildungsplätze, so Corinna Hendrich, seien aber inzwischen sehr viel häufiger geworden. Tendenz steigend.

Text: Schwäbische Zeitung online und Printversion (Abweichungen)

leichte Veränderungen und Korrekturen: Martin Gabel

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Kommentar (Martin Gabel, BoGy-Beauftragter)

Der SZ-Artikel gibt wichtige Erfahrungen und Erlebnisse der Schülerinnen wieder und zeigt die erfreuliche und sehr anerkennenswerte Bereitschaft von Firmen der Region, besonders auch der Firma Kessler, den Schülern und Schülerinnen frühzeitig Gelegenheit zu geben, die berufliche Lebenswelt kennenzulernen.

Was das Programm betrifft, sollte es aber nicht unbeachtet bleiben, dass dieser Tag Girls‘ und Boys‘ day heißt, und auch Jungen Erfahrungen in „Frauenberufen“ machen konnten, zum Beispiel als Erzieher und Grundschullehrer. Was die Vorurteile betrifft, schränken diese Jungen mindestens ebenso sehr ein wie Mädchen.

Was den Effekt des Girls‘ days betrifft, gibt es ganz unterschiedliche Aussagen: Verbreitet ist etwa die Darstellung, dass in Ländern mit hoher Liberalität Frauen in höherem Maße „Frauenberufe“ ergreifen, sodass der Effekt des Girls‘ days nur marginal sei. Nur in Ländern, in denen Frauen darauf angewiesen seien, jede nur möglich Art der Beschäftigung anzunehmen, gebe es eine hohe und steigende Quote von Frauen in Männerberufen.

Hauptaspekt für das Progymnasium ist der erstmalige direkte Kontakt der Schüler und Schülerinnen mit praktischer Berufserfahrung im Rahmen der Berufsorientierung. Wichtig ist in diesem Rahmen weiterhin, dass man seine berufliche Perspektive erweitern und testen kann. Kein Mädchen sollte nur aus Vorurteilen und Unkenntnis seiner Fähigkeiten heraus einen Beruf wählen, der nicht wirklich zu seinen Voraussetzungen passt. Dasselbe gilt auch für Jungen. Dieses Konzept setzt voraus, dass es tatsächlich relativ stabile Begabungen und Interessen gibt, die schon in der 8. Klasse erkennbar oder entwickelbar sind.

Allerdings muss man einschränkend feststellen, dass Jungen allein schon deswegen auch bei Eignung und Interesse kaum „Frauenberufe“ ergreifen werden, weil diese, was den sozialen Status – und vor allem die Bezahlung – betrifft, leider weniger attraktiv und kaum dazu geeignet sind, die Rolle des Hauptverdieners der Familie zu ermöglichen, die den meisten Schülern noch vorschwebt.

Hier wird ein gesellschaftliches Problem sichtbar, das weniger mit der Eignung der Frauen für Männerberufe zu tun hat als mit der Diskriminierung von Frauen als Frauen mit den ihnen als „typisch weiblich“ zugeordneten Tätigkeiten.

Auch das vermutete Ziel hinter dem Programm, mehr Frauen für MINT-Berufe zu begeistern, ist nur teilweise überzeugend, da Fachkräfte in sozialen, medizinisch-pflegerischen und pädagogischen Berufen für die Zukunft mindestens ebenso wichtig – und knapp – sind,  wenn auch deutlich schlechter bezahlt, weil ihnen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Wertschätzung fehlt.

M. Gabel

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